(Dieser Artikel ist in leicht veränderter Form auch auf Rubikon erschienen)
Der aktuelle Ausnahmezustand basiert auf der
Prämisse, dass der COVID-19 Erreger extrem virulent, das heißt sehr ansteckend
und tödlich, ist. Der Epidemiologe Dr. Wolfgang Wodarg war von Beginn der
COVID-19 Krise an einer der wenigen, die diese vom Mainstream unkritisch für
wahr befundene Prämisse hinterfragt haben. Ihm zufolge ist an der derzeitigen
Erkrankungswelle und Mortalitätsrate nichts Außergewöhnliches. Dies belegt er
auch mit Daten und Verweisen auf externe Quellen, wie man auf seiner Homepage nachlesen
kann. Dennoch wird Wodarg aktuell zunehmend für seine Aussagen kritisiert. In
einem Artikel „Coronavirus: Warum die Aussagen von Wolfgang Wodarg wenig mit
Wissenschaft zu tun haben“ warfen die beiden Journalisten Frederik Richter und
Bianca Hoffmann Dr. Wodarg Unwissenschaftlichkeit vor und behaupten, er
vermische Fakten mit Spekulationen [1]. In die gleiche Kerbe schlägt die
Tagesschau mit ihrem Artikel „Alles nur Panikmache?“ [2] oder der Spiegel [3]. Hier möchte ich als kurz auf einige
Argumente gegen Wodarg eingehen.
Mutation und Virulenz
Richter und Hoffmann schreiben: „Wodarg
argumentiert, dass es ein normaler Vorgang sei, dass sich Viren verändern, um
sich verbreiten zu können. Allerdings lässt er die Problematik des aktuellen
SARS-CoV-2-Ausbruch unter den Tisch fallen: Für dieses Virus gibt es bisher
weder einen Impfstoff noch eine Immunität in der Bevölkerung. Lässt man der
Pandemie also ihren Lauf, ist das Gesundheitssystem schnell überlastet“ [1].
Richter und Hofmann scheinen hier einen kausalen
Zusammenhang zwischen Mutationen und Ansteckungsgefahr zu ziehen. Allerdings
sind Mutationen bei Viren, auch wenn ihnen der Laie vielleicht etwas
Machtvolles oder Unberechenbares zuschreibt, völlig normal und spielen in deren
und unserer Entwicklung eine wichtige Rolle. Es gibt keinen Grund zu der a
priori Annahme, dass Mutationen per se einen Virus virulenter machen; das gilt
auch für Mutationen, die es einem Virus wie SARS-CoV-2 erlauben, vom Tier auf
den Menschen übertragen zu werden [4]. Das gibt auch die Tagesschau zu,
schreibt dann aber: „Allerdings deuten die ersten Erfahrungen mit dem neuen
Virus darauf hin, dass Infektionen häufiger schwer oder sogar tödlich verlaufen
als beispielsweise bei Grippeviren“ [2].
Schauen wir uns die bisherigen Erfahrungen mit dem neuen Virus in
Italien und Deutschland mal an.
Das italienische Institute Superiore di Sanita
veröffentlichte am 17. März einen Bericht zu den positiv getesteten und
verstorbenen Fallzahlen in Italien (https://www.epicentro.iss.it/coronavirus/bollettino/Report-COVID-2019_17_marzo-v2.pdf).
Demnach betrug das mediane Alter der Patienten mit COVID-19 Diagnose 63 Jahre,
das der verstorbenen Patienten 80,5 Jahre. Nur 0,8% aller Verstorbenen hatten
keine Begleiterkrankung, jeweils knapp ein Viertel hatte eine bzw. zwei
Komorbiditäten, und fast die Hälfte (48,5%) besaß drei oder mehr
Begleiterkrankungen. Die Zahlen für Deutschland ergeben ein ähnliches Bild [5]:
Das Durchschnittsalter der bisher Verstorbenen 39 Patienten, über die medial
berichtet wurde, lag bei über 80 Jahren, der jüngste Patient war 49 Jahre.
Mindestens 81% wiesen mindestens eine Komorbidität auf.
Zusammengenommen scheinen diese Daten Wodarg‘s
Hypothese, das neue Virus sei nicht gefährlicher als normale Grippeviren,
bisher also zu bestätigen und die Behauptungen der Wodarg-kritischen
Journalisten zu widerlegen. Eine neue Abschätzung der Infektions-Sterberate
durch eine japanisch-amerikanische Arbeitsgruppe kommt auf einen Wert von 0,04
Prozent [6], was Wodarg’s Argument weiter bestätigen würde, wobei diese
Berechnung erst noch von Fachkollegen im sogenannten Peer-Review-Verfahren
geprüft werden muss.
Als letzte Anmerkung sei erwähnt, dass allein
die tägliche Auflistung neuer Fälle keine objektive Beurteilung ob der
Gefährlichkeit des SARS-CoV-2 Virus im Vergleich zu anderen Viren zulässt. Es
fehlen nämlich parallele Aufzählungen von anderen Virusinfektionen und damit
zusammenhängender Todesfälle. Letztere werden zum Teil nicht getestet und nicht
berichtet. Subjektiv entsteht aber der Eindruck, dass die SARS-CoV-2-Pandemie
täglich weiter um sich greift.
Das Argument mit dem Test
Die Journalisten Richter und Hofmann und die
Tagesschau kritisieren Wodarg dafür, dass er Skepsis gegenüber dem in der
Charité entwickelten SARS-CoV-2 Test zeigt. Wodarg argumentiert auf seiner
Homepage (https://www.wodarg.com/) mit den folgenden drei Punkten:
• Die benutzten Tests sind nicht amtlich validiert, sondern lediglich von miteinander kooperierenden Instituten befürwortet worden.
• Die Tests werden häufig (Wuhan und Italien) selektiv z.B. bei ohnehin Schwerkranken angewendet und sind dann für die Abschätzung einer Seuchengefahr unbrauchbar.
• Ohne die in ihrer Aussagekraft und ihrer verfälschenden Anwendung fragwürdigen Tests gäbe es keine Indikation für Notfallmaßnahmen.
Zum ersten Punkt: In
der Originalpublikation der Testentwicklung schreiben die Autoren um den
Virologen Christian Drosten [7]: “We report here on the establishment and
validation of a diagnostic workflow for 2019-nCoV screening and specific
confirmation, designed in absence of available virus isolates or original
patient specimens. Design and validation were enabled by the close genetic
relatedness to the 2003 SARS-CoV, and aided by the use of synthetic nucleic
acid technology.”
Der Test wurde also in einem Schnellverfahren
ohne originale SARS-CoV-2 Isolate von Patienten, sondern mit Hilfe der
synthetischen Biologie auf Basis des alten SARS-CoV entwickelt. In ihrer Studie
behaupten die Autoren, der Test habe bei 297 Proben von anderen Viren kein
einziges Mal eine positive Reaktion gezeigt [7]. Darunter waren auch 67 Proben
anderer menschlicher Coronaviren. Demnach hätte der Test eine
Falsch-Positiv-Rate von 0%. Diese Annahme ist allerdings tatsächlich
unrealistisch, da es in der klinischen Anwendung diagnostischer Tests immer
eine gewisse Falsch-Positiv-Rate gibt. Dass diese nicht bekannt ist, liegt in
der Tat an der fehlenden Validierung des Tests, was genau Wodarg‘s Argument
ist. Eine chinesische Validierungsstudie zu den in China verwendeten COVID-19
Tests berichtet zum Beispiel von einer mindestens knapp 50-prozentigen
Falsch-Positiv-Rate [8]. Rein wissenschaftlich gesehen ist also Skepsis
gegenüber dem von Drosten und Kollegen entwickelten Test angebracht, solange
bis es weitere Validierungsstudien gibt.
Zum zweiten Punkt: Hier spielt Wodarg auf das
Problem der unbekannten Basisrate der CORVID-19 Erkrankung an. Wie ich bereits
in einem anderen Artikel erklärt habe [9] puttygen download , ist die Basisrate der Anteil einer
Population, welche infiziert ist. Mit anderen Worten ist die Basisrate die
Wahrscheinlichkeit, mit der man eine Infektion bei einem zufällig ausgewählten
Individuum erwartet ohne einen Test durchgeführt zu haben. Ein positives
Testergebnis allein sagt nichts über die Wahrscheinlichkeit aus, auch
tatsächlich infiziert zu sein. Um diese nämlich zu berechnen, bedarf es neben
den Teststatistiken der Sensitivität und Spezifität (=100 Prozent minus
Fasch-Positiv-Rate) auch der Kenntnis der Basisrate, denn nach dem Satz von
Bayes gilt:
P(V|T) = P(T|V)*P(V)/P(T)
Hierbei bezeichnet P(V|T) die
Wahrscheinlichkeit, mit dem Virus infiziert zu sein (V=Virusinfektion), nachdem
ein positives Testergebnis erhalten wurde (T=positiver Test), P(T|V) die
Wahrscheinlichkeit, ein positives Testergebnis zu erhalten, wenn man
tatsächlich mit dem Virus infiziert ist (=Sensitivität), und P(V) bezeichnet
die Basisrate. Das grundsätzliche Problem ist, dass die Basisrate aufgrund der
Neuartigkeit von COVID-19 nicht bekannt ist, aber sehr wahrscheinlich bei
hospitalisierten Patienten höher ist als in der gesunden Normalbevölkerung.
Eine Berechnung der Basisrate aus obiger Formel von Daten, die an schwerkranken
Patienten gewonnen wurden, wäre also nicht repräsentativ für die
Normalbevölkerung. Abgesehen davon würde die oben bereits erwähnte Unsicherheit
der Sensitivität des Tests eine weitere Unsicherheit für die Berechnung der
Basisrate darstellen. Allein die positiven Testergebnisse bei Personen mit
bereits vorhandenen COVID-19 Symptomen sind also tatsächlich für die
Abschätzung der Basisrate in der Bevölkerung unbrauchbar.
Evidenz und Kausalität
Der dritte Punkt Wodarg’s spielt auf die
generelle Fragwürdigkeit der Aussage eines positiven Testergebnisses an. Denn
selbst wenn wir davon ausgehen, dass nach positiven Test eine Infektion mit dem
SARS-CoV-2 Virus vorliegt, ist die entscheidende Frage dann: was ist die
Evidenz dafür, dass der/die positive Getestete die CORVID-10 Krankheit
entwickelt und seine/ihre Sterbewahrscheinlichkeit ansteigt? In der
Wissenschaftsphilosophie lässt sich Evidenz als Maß dafür auffassen, wie stark
Daten eine bestimmte Hypothese gegenüber einer anderen Hypothese stützen [10].
Mit anderen Worten: Evidenz misst das Gewicht einer Hypothese gegenüber einer
alternativen Hypothese. Was ist also die Evidenz dafür, dass SARS-CoV-2 eine
überhöhte Sterblichkeit bei Infizierten hervorruft? Dies ist eine kausale
Hypothese der Form „SARS-CoV-2 ist die Ursache dafür, dass damit infizierte
Personen mit höherer Wahrscheinlichkeit sterben als durch andere normal
vorkommende Viren“. Demgegenüber stellen wir die rein korrelative Hypothese der
Form „SARS-CoV-2 Infektionen sind mit einem erhöhten Sterberisiko assoziiert,
ohne aber die Ursache zu sein“. Können wir bei Patienten zwischen beiden
Hypothesen anhand des SARS-CoV-2 Tests unterscheiden? Nein, denn im Krankenhaus
gibt es viele weitere Keime, an denen mit SARS-CoV-2 infizierte Patienten
versterben können. In diesem Fall wäre die SARS-CoV-2 Infektion lediglich ein
Störfaktor einer anderen kausalen Beziehung, und sowohl mit der Ursache (z.B.
einem bestimmten Krankenhauskeim) als auch der Wirkung (überhohes Sterberisiko)
assoziiert. Ein positiver Test kann also nicht unterscheiden, ob man durch oder
mit SARS-CoV-2 stirbt. Um Evidenz für die kausale Hypothese zu bekommen, müsste
man auf alle anderen möglichen Keime testen und diese ausschließen. Das heißt
zusammengefasst, allein die positiven Testergebnisse an Patienten, die dann
versterben, sind keine Evidenz dafür, dass SARS-CoV-2 ursächlich für deren Tod
verantwortlich war.
Neben Wodarg macht auch der berühmte
Methodiker und Public Health Forscher John P.A. Ioannidis, der zu den
meistzitierten Wissenschaftlern der Welt gehört [11], auf die fehlende Evidenz
aufmerksam, die die derzeit laufenden drastischen sozialen und wirtschaftlichen
Einschränkungen rechtfertigen würde [12]: „[W]e are making decisions without
reliable data…The current coronavirus disease, Covid-19, has been called a
once-in-a-century pandemic. But it
may also be a once-in-a-century evidence fiasco.” Immer
mehr hochkarätige Wissenschaftler schließen sich an. So schreibt der Mediziner
und ehemalige Chef der anerkannten Cochrane-Kollaboration Peter C. Gøtzsche am
21. März in seinem Blog [13]: „Logik war eines der ersten Opfer der COVID-19
Krise“ (Übersetzung des Autors).
Die Logik der derzeitigen Panikverbreitung ist
leider, dass Menschen wie in Italien in die generell ausgelasteten Krankenhäuser
strömen, was zu überfüllten Krankenhäusern und damit höherer Mortalität führt.
Eine kausale Kette, an deren Anfang Politiker und Massenmedien als
Verantwortliche stehen. Dass Journalisten gleichzeitig die Seriosität bzw.
„Wissenschaftlichkeit“ von kritischen Wissenschaftlern wie Wodarg in Frage
stellen ist nur der Gipfel eines Berges der Irrationalität der derzeitigen
COVID-19 Krise.
Referenzen
1. Richter F, Hoffmann B. Coronavirus: Warum
die Aussagen von Wolfgang Wodarg wenig mit Wissenschaft zu tun haben. CORRECTIV
– Recherchen für die Gesellschaft. 2020 [Zugriff 21. März 2020]. URL:
https://correctiv.org/faktencheck/hintergrund/2020/03/18/coronavirus-warum-die-aussagen-von-wolfgang-wodarg-wenig-mit-wissenschaft-zu-tun-haben
2. Taßler J, Heck J. Alles nur Panikmache? tagesschau.de. 2020 [Zugriff 21. März 2020]. Available from: https://www.tagesschau.de/faktenfinder/corona-wodarg-101.html?utm_source=pocket-newtabhttps://www.tagesschau.de/faktenfinder/corona-wodarg-101.html?utm_source=pocket-newtab
3. Merlot J. Die gefährlichen
Falschinformationen des Wolfgang Wodarg. Spiegel. 2020 [Zugriff 21. März 2020].
Available from:
https://www.spiegel.de/wissenschaft/medizin/coronavirus-die-gefaehrlichen-falschinformationen-des-wolfgang-wodarg-a-f74bc73b-aac5-469e-a4e4-2ebe7aa6c270
4. Grubaugh ND, Petrone ME, Holmes EC. We shouldn’t worry when a virus mutates during disease outbreaks. Nat Microbiol. 2020;[Epub ahead of print].
5. COVID-19-Pandemie in Deutschland. Wikipedia.
2020 [Zugriff 21. März 2020]. URL:
https://de.wikipedia.org/wiki/COVID-19-Pandemie_in_Deutschland#Todesfälle_in_den_Medien
6. Mizumoto K, Kagaya
K, Chowell G. Early epidemiological assessment of the transmission potential
and virulence of 2019 Novel Coronavirus in Wuhan City: China, 2019-2020.
medRxiv. 2020;2020.02.12.20022434. URL: https://www.medrxiv.org/content/10.1101/2020.02.12.20022434v1
7. Corman VM, Landt O,
Kaiser M, Molenkamp R, Meijer A, Chu DK, et al. Detection of 2019 novel
coronavirus (2019-nCoV) by real-time RT-PCR. Eurosurveillance.
2020;25:1–8.
8. Zhuang G, Shen M, Zeng L, Mi B, Chen F, Liu
W, et al. Potential false-positive
rate among the “asymptomatic infected individuals” in close contacts of
COVID-19 patients. Zhonghua Liu Xing Bing Xue Za Zhi [Chinese Journal of
Epidemiology]. 2020;41:485–8.
9. Klement RJ. Die Angst-Kampagne. Rubikon;
2020. URL: https://www.rubikon.news/artikel/die-angst-kampagne
10. Klement RJ,
Bandyopadhyay PS. Emergence and Evidence: A Close Look at Bunge’s Philosophy of
Medicine. Philosophies. 2019;4:50.
11. Ioannidis JPA,
Baas J, Klavans R, Boyack KW. A standardized citation metrics author database
annotated for scientific field. PLoS Biol. 2019;17:e3000384.
12. Ioannidis JPA. A
fiasco in the making? As the coronavirus pandemic takes hold, we are making
decisions without reliable data. 2020 [Zugriff 21. März
2020]. URL:
https://www.statnews.com/2020/03/17/a-fiasco-in-the-making-as-the-coronavirus-pandemic-takes-hold-we-are-making-decisions-without-reliable-data/
13. Gøtzsche PC. Corona:
an epidemic of mass panic. 2020 [Zugriff 21. März 2020].
URL: https://www.deadlymedicines.dk/category/blog/